"Mir geht es in Sachen Bildungspolitik, wie es Thomas Mann ging, als er einmal gefragt wurde, wo er sich selbst in der politischen Geographie verorte und warum er das so oder so tue. Er sagte: Das sei bei ihm so, wie wenn er in einem Kahn fahre. Wenn sich der Kahn zu sehr nach links neige, dann gehe er unwillkürlich nach rechts; und wenn sich der Kahn zu sehr nach rechts neige, dann neige er sich selbst unwillkürlich nach links.
Ich will dieses Bild bildungspolitisch nicht nach „links“ und „rechts“ abklopfen. Ich möchte vielmehr zum Ausdruck bringen, dass wir in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten recht unterschiedliche Vorstellungen vom Ziel und Zweck staatlicher und privater Bildungsanstrengungen hatten:
- Mal gewannen diejenigen die Oberhand, denen es um zweckfreie, um Bildung als Eigenwert, ja gar gegen Kapital und Ausbeutung ging.
- Ein anderes Mal gewannen diejenigen die Oberhand, die in Bildung vor allem das Messbare, das Verwertbare, das Funktionale, das Nützliche sehen.
Ich selbst beteilige mich seit mehr als zwanzig Jahren an der bildungspolitischen Debatte. Und ich stehe dazu, dass ich früher oft genug vor einem überzogenen Bildungsidealismus gewarnt habe - gewarnt habe
- vor einer Bildung, die nur noch das Zweckfreie im Sinn hat,
- vor einer Bildung, die Schule in den Elfenbeinturm einzukerkern droht.
Heute rede ich ein wenig anders. Der Titel meiner Rede deutet es vielleicht schon an. Ich neige mich derzeit instinktiv eher in die Richtung eines Skeptikers, der Bildung in Deutschland heutzutage, wenn nicht bedroht, so doch etwas einseitig in Richtung Ökonomismus, Utilitarismus, Funktionalismus gedrängt sieht - parteiübergreifend übrigens! Auch in Bayern!
Wie auch immer: Ich wünschte, wir bekämen zwischen beidem - zwischen Verwertungsdenken und Kulturauftrag, zwischen Ökonomie und Kultur - endlich ein Gleichgewicht hin. Das eine geht nicht ohne das andere.
Wenn ich mich heute aber instinktiv eher in Richtung Bildungsidealismus neige, dann will ich Ihnen dazu Rede und Antwort stehen. Aber ich will dies nicht radikal tun, sondern sehr wohl eine Brücke schlagen zwischen Ökonomie und Kultur und auch vorab und überzeugt zum Ausdruck bringen, dass Bildung sehr konkrete Ziele haben muss:
- zum einen das Ziel der Ausbildungs-, Studier- bzw. Berufsreife (hier haben wir zweifelsohne Defizite bei wohl rund einem Viertel unserer Schulabgänger!)
- zum zweiten das Ziel, einen ökonomisch mündigen Staatsbürger heranzuziehen.
Im übrigen: So schlecht - wie nach PISA immer behauptet wird - sind wir nicht. Finnland ist nicht das gelobte Land. Erst jetzt hat eine Studie der WHO ergeben, dass sich die finnischen Schüler unter den Schülern von 31 untersuchten Ländern am wenigsten in der Schule wohlfühlen.
Jetzt aber zur Kernthese, die hinter meiner Rede steht: Das Volk der Dichter, Denker und der großen Pädagogen droht zu vergessen, was Bildung ist!
Warum diese These? Weil ich das Gefühl habe, dass uns eine operationalistische Verarmung von „Bildung“ droht: Bildung ist das, was PISA misst, so scheint es.
Jedenfalls will es mir nicht in den Kopf, warum Bildungspolitik und Pädagogik seit dem 4. Dezember 2001 (dem Tag der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie) schier monomanisch nur noch auf PISA glotzen. PISA untersucht schließlich nur einen Ausschnitt von dem, was Bildung ist, nämlich ein bisschen etwas vom Funktionswissen und ein bisschen etwas vom Methodenwissen unserer Schüler. Bildung ist das noch lange nicht. ..."
OStD Josef Kraus, Ergolding, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Vortrag im Aufseesianum: Schule zwischen Verwertungsdenken und kulturellem Auftrag, Bamberger Lehrertag, 2004